Prolog

Die schnellsten Menschen der Welt

Im späten Neunzehnten Jahrhundert erfreuten sich drei Sportarten ganz besonderer Beliebtheit: Boxen, Pferderennen und Radsport. Genauer gesagt, der Bahnradsport.

Europaweit, wie auch in Nordamerika und Australien, wurden Radrennbahnen aus dem Boden gestampft. Wenn die finanziellen Mittel dafür fehlten, improvisierte man durch das Planieren von Freiflächen, bei denen Aufschüttungen die Steilkurven ersetzten. Selbst in Gebäuden, die dafür eigentlich nicht geeignet waren, errichteten Zimmerleute teils abenteuerlich anmutende Bahnkonstruktionen.

Start zum Fliegerrennen in Treptow

Als Fliegerrennen bezeichnete man zu jener Zeit die Wettbewerbe der Sprinter. In einer Epoche ohne Auto- und Flugverkehr im heutigen Sinn zählten die Flieger zu den schnellsten Menschen der Welt. Die besten von ihnen wurden Berufsfahrer und hatten Verehrer in allen Gesellschaftsschichten.

Ihre Wettkämpfe wurden in der Presse sowie durch Plakataushang intensiv beworben, der Verkauf von Eintrittskarten begann bereits Wochen vor den Rennen. Angereiste Fahrer wurden von den Fans schon am Bahnhof empfangen, ihre Quartiere belagert und kleine Jungen waren stolz, wenn sie die Reisetaschen ihrer Idole zur Rennbahn tragen durften.

Fliegerrennen waren Großereignisse und wo die Radarenen den Platz boten, kamen mehr als 20.000 Zuschauer. Wenn die Flieger ihre Rennmaschinen mit wuchtigen Tritten auf eine Geschwindigkeit jenseits der 60 Stundenkilometer beschleunigten, kannte die Begeisterung des Publikums keine Grenzen. Wenn der exzentrische Hannoveraner Willy Arend zu einem Match gegen den Franzosen Edmond Jacquelin antrat, war dies ein Ereignis, das die Sportnation bewegte.

Sechs Tage auf dem Rade

Ganz anders geartet als die Fliegerrennen, aber von gleichem Interesse beim Publikum waren die Sechstagerennen, die in keiner Weise vergleichbar waren mit denen der Gegenwart. Es waren echte und harte Ausdauerprüfungen über sechs volle Tage und Nächte und sie fanden unter Bedingungen statt, die man heutzutage für unzumutbar erklären würde.

Austragungstermin war der Winter, in den ungeheizten Hallen war es oft kaum wärmer als draußen und die Fahrer brachten kleine Öfen mit, die sie nahe ihrer Kojen aufstellten, um während der kurzen Pausen nicht zu "erfrieren". Neben die Pritsche platzierten sie einen Sauerstoffapparat, der ihnen hin und wieder ein paar Züge reiner Luft ermöglichte. Tabakrauch lag in dichten Schwaden über der Rennbahn, reizte die Augen und erschwerte die Atmung erheblich.

Sowohl bei den Fliegern als auch bei den Sechstagefahrern zählten einige Akteure zur absoluten Spitze, in beiden Disziplinen zu glänzen war fast unmöglich. Dem Protagonisten dieser Seiten ist es gelungen, sich sowohl mit dem Titel des Fliegerweltmeisters zu schmücken, als auch mit dem eines Champions der Sechstagerennen. Seine Geschichte ist die von Aufstieg und Erfolg, von Ansehen und Reichtum, aber es ist auch die von der Vergänglichkeit des Ruhmes und die der Armut. Es ist die Geschichte von Walter Rütt.

Pressefoto vom 5. Berliner Sechstagerennen


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